Der Zwerg in Morts Daumen

Das Leben, die Show, wie manche sagen würden, musste weitergehen.

Das sagte sich irgendwann auch Mort, und entschloss sich, den Zwerg, der in seinem Daumen wohnte, nicht mehr zu beachten.
Anfangs war er verständlicherweise sehr skeptisch gewesen betrefflich dieses formidablen jungen Mannes, der in seinen Daumen einziehen wollte, da dies das erste Mal war, dass er eines seiner Körperteile vermietete. Aber er konnte das Geld gut gebrauchen. Außerdem, wie er sich zu überzeugen versuchte, schien ihm das winzige Männlein trotz seiner sarkastischen, übellaunigen Art ein ganz umgänglicher Mieter zu sein.

Aus irgend einem Grund zweifelte Mort nie an seinem Verstand. Es lebte also jemand in seinem Daumen, na und? Er musste sich ja nicht mit ihm abgeben, oder sich coram publico mit ihm unterhalten – coram publico bedeutet hier so viel wie „mitten unter Leuten, die ihn für verrückt halten könnten". Damit versuchte er sich immer wieder zu beruhigen und seine Handelsweise, Geld zu verdienen, zu rechtfertigen. Von diesem hatte er allerdings bis jetzt noch keinen Cent zu sehen bekommen.

„Hör mal,", sagte Mort, um (wie ihr euch vermutlich schon gedacht habt) den Zwerg dazu zu bringen, ihm zuzuhören, „du hast seit zwei Wochen keine Miete bezahlt. Ich dachte, wir hätten einen Deal!"
Die Stimme des Zwerges war tiefer als man es von so einer kleinen Person erwartet hätte. „Ja. Genau das hab ich auch gedacht."
Als er bemerkte, dass Mort damit überhaupt nicht zufrieden zu sein schien, fügte er hinzu, „also…?"
Wenn es sein musste, stellte er sich gerne dumm, was er, im Gegensatz zum Besitzer des Daumens, den er sein Zuhause nannte, nicht war.
„Wo ist mein Geld? Ich brauche es wirklich. Heute."
Das war nicht unbedingt die Wahrheit, aber es konnte nicht schaden, es eher früher zu bekommen als später, oder garnicht.
„Ja. Das Geld. Natürlich. Es ist nur so, weißt du… Ich war der Überzeugung, wir hätten uns auf eine monatliche Auszahlung der Miete geeinigt. Aber es ist schön, einen so jungen Herren so geschäftstüchtig zu erleben." Damit, wusste Mort, meinte er so etwas wie „Du bist ein raffsüchtiger Teenager und mir wär recht, wenn du jetzt sterben gehn würdest, lebte ich nicht in deinem Daumen ohne Miete zu bezahlen."
„Auf was wir uns geeinigt haben, waren eigentlich fünf Euro jeden Tag! Das wären jetzt siebzig Mäuse. Wo ist mein Geld?" Er fand es schwierig, freundlich zu bleiben.
„Ich weiß nicht. Wo hast du’s denn liegen lassen?"
„Ich meine, wo ist das Geld, das du… du weißt, was ich meine!"
„Ich versuch nicht mal es rauszufinden. Hey, vielleicht hast du es wieder in deinem Ohr vergessen?"
„Was?", fragte Mort verwirrt.
„Ich sagte, Geiz macht schwerhörig!
Schau an, ich denk da ist ein Sturm im Anzug. Ich bring mal besser die Wäsche rein. Nerv dich später, Kurzer!"
Damit, und mit einem fiesen Grinsen, ging er in Morts Daumen. Mort verstand noch nicht ganz, wie das vor sich ging; jedenfalls schmerzte es nicht, und er hatte sich noch kaum darüber Gedanken gemacht.

Auf die Gefahr hin, besserwisserisch zu wirken und wieder einmal von einer billigen, abgenutzten Redewendung Gebrauch zu machen: Sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt, dass es etwas seltsam werden könnte.

Es kommt noch schlimmer.


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