Tempus Vernum

Touristen spazierten in Scharen hinter ihm vorbei, doch Mort fühlte sich allein, als er still auf dem steinernen Rand der Brücke saß. Im Schatten einer der zahlreichen Statuen starrte er auf den breiten braunen Fluss, ohne dem angenehmen Frühlingswetter, den heiteren Klänge der Tschechischen Straßenmusikanten, oder den kurzen Röcke der Touristinnen Acht zu schenken. Früher hatte er oft geträumt, wenn es so ruhig war. Von unglaublichen Abenteuern, von grandiosen Heldentaten, von der großen Liebe.

Auch in diesem Moment träumte er. Doch er dachte nicht mehr an eine glorreiche Zukunft; es war die Vergangenheit, die ihn nicht losließ.

Zugegeben, er hatte unglaubliche Abenteuer erlebt. Aber bei weitem keine Heldentaten vollbracht, oder die große Liebe gefunden. So leid es mir tut, aber das hier ist kein Hollywoodfilm, sondern eine wahre Geschichte. Und die Wahrheit ist: es kann immer noch schlimmer kommen. Also seid vernünftig und schaut euch lieber witzige Videos auf youTube an.

Wäre Mort sich dieser Tatsache bewusst gewesen, hätte er Dingen wie das Wetter, Musik und feminine Reize mehr Beachtung geschenkt und zu schätzen wissen sollen. Doch er saß stumpfsinnig und geistesabwesend auf dem kühlen Stein und versuchte vergebens die Gedanken zu verdrängen, die ihn gefangen hielten:

Er war aus einer Irrenanstalt ausgebrochen.
Er hatte einen Arzt erschlagen.
Er befand sich mitten in einer riesigen fremden Stadt, ohne Geld oder Unterschlupf.
Und das alles auf der völlig irrationalen Suche nach seinem toten Freund.
Mann, war er am Arsch.

Mort wusste, dass er wahnsinnig sein musste.

Immerhin war die einzige Person, mit der er in der letzten Stunde kommuniziert hatte, ja die einzige, die er als Freund bezeichnet hätte, ein Zwerg, der in seinem Daumen wohnte.

Mort wünschte, die Moldau möge diese furchtbaren Gedanken mit sich tragen und in ihren schlammigen Tiefen verschlingen.

Doch die Moldau war ein undankbarer Fluss, und anstatt Morts trübe Gedanken zu absorbieren, spie sie eine junge Dame aus, die – wie könnte es anders sein – alles nur noch schlimmer machen würde.


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