Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zu den Texten von Michael Seemann. Das dürfte zwei zentrale Gründe haben. Einerseits seine Art seine Gedanken als absolut darzustellen, auch wenn das nicht immer seine Absicht ist, und andererseits bin ich vermutlich neidisch, dass er so viel Aufmerksamkeit bekommt. Doch dies nur als Vorabinformation, damit man meinen Beitrag besser einordnen kann.
Im Text „Unsere Verschwörung“ schreibt er von einer neuen Elite, die sich vor allem über Kultur und Vernetzung definiert. Diese Elite würde sich nicht mehr um Nationalstaaten kümmern, sondern sei das kulturelle Gegenstück zur wirtschaftlichen Globalisierung. Nicht mehr die Probleme des Nachbarn, sondern die mit einem ähnlichen kulturellen Hintergrund revolutionierenden Ägypter interessieren die neue Elite. Am Ende kommt noch die Prognose, dass diese neue Elite in Zukunft noch viel stärker wird, weil ja schon im Kindergarten Englisch gelernt wird. Als empirische Basis wird sein Freundeskreis sowie anekdotische Evidenzen angegeben.
Nun schreibt Michael später, dass sein Ziel war mit dem Text zum Denken anzuregen und er deshalb provozierend geschrieben wurde. Halte ich nicht viel davon, auch wenn ich manchmal das gleiche mache.
Ich bin mir nicht sicher, wie viel Sinn es macht, sich mit einem Text inhaltlich auseinanderzusetzen, dessen vorrangiges Ziel Provokation ist, werde es aber dennoch versuchen, weil er eben viel Aufmerksamkeit erhalten hat und mir ein paar Punkte aufstoßen, beziehungsweise ich eigene Erfahrungen einbringen kann, um das Thema möglicherweise weiterzubringen.
Vermischung
Für mich ist es schwierig herauszulesen, was diese neue Elite ausmacht, weil einerseits von der internationalen Vernetzung geschrieben wird und andererseits von kulturellen und sozioökonomischen Hintergründen.
Mittelschicht
Die neue Elite würde zumindest aus mittelständischen Haushalten mit wenigen Ausnahmen kommen. Die neue Elite macht Party in Berlin und isst Steak in New York. Dazu empfehle ich das Interview mit Ulrike Herrmann über die falsche Selbsteinschätzung von Menschen zu welcher Schicht sie gehören. Die Mittelschicht glaubt sie sei reich, die Oberschicht zählt sich zur Mittelschicht und die Unterschicht glaubt so schlecht geht es ihr gar nicht und zählt sich zur Mittelschicht.
Ich glaube nicht, dass sich die Mittelschicht Party in Berlin und Steak in New York leisten kann. Natürlich gibt es Billigfliege, aber dann beschränkt sich das auf Ausnahmen.
Zugleich versucht Michael die neue Elite eben nicht über Geld zu definieren.
Internationalisierung
Einer der Kernpunkte, die über den Besuch von internationalen Veranstaltungen und der Beteiligung an internationalen Diskussionen begründet wird. Bezeichnend ist, dass der Beitrag selbst in deutsch ist, worauf Michael in den Kommentaren eingeht und meint, dass er eben noch nicht international genug ist. Aber die gesamte deutsche Blogosphäre ist mit wenigen Ausnahmen deutschsprachig. Mir fehlt für diesen Punkt die Grundlage. Vielleicht kann Michael ja Beispiele nennen.
Internationale Solidarisierung
Als Beispiel die Proteste in Ägypten, über die die neue Elite angeblich über Blogs und Twitter am laufenden gehalten wurde. Soweit ich es mitbekommen habe, war Al Jazeera und ihre Berichterstattung von dort für die meisten das Hauptinformationsmedium. Ebenso auf Twitter waren es vor allem internationale Journalisten. Ich für meinen Teil kann kein arabisch und somit war ich auf Englisch beschränkt, wo mir nur vereinzelt private Twitterer aufgefallen wären. Und das einzige besondere an Al Jazeera ist, dass der Sender aus Qatar und nicht aus den USA oder UK kommt, wie die meisten anderen internationalen Nachrichtensendern. Ebenso seine starke Integration des Internet. Wobei dies alles nichts mit einer neuen Elite zu tun hat.
Es geht aber darum, dass man ähnliche kulturelle Hintergründe/Probleme hat. Deshalb solidarisiert man sich mit den Ägyptern. Oder ist es das Wissen um einen Typen, der seit dreissig Jahren an der Macht ist und ein Volk, das systematisch unterdrückt wird? Die Fantasie von Revolution, das Gefühl von Macht, wie es etwa bei #unibrennt auch eine Rolle gespielt hat?
Und nun nach viel Geschwurbel zum interessanten Teil.
Meine Erfahrungen
In meinem Pass steht ich sei Österreicher und römisch-katholisch. Ich bin Jahrgang 88. Ich studiere im 8ten Semester Publizistik- und Kommunikationswissenschaften. Ich habe nie ein Auslandssemester gemacht. Ich war einmal in meinem Leben in Amerika, als ich noch in der Volksschule und das alles recht faszinierend fand, aber mir keine Gedanken darüber machte, ob ich mich mit den Menschen zusammengehörig fühlen würde oder nicht. Ich bin im Sommer nach meiner Matura (Abitur) mit einem Freund eine Europareise gemacht. Per Flugzeug. Mein Lebensmittelpunkt hat sich bisher alle 4 bis 8 Jahre geändert. Dorf -> Nachbardorf -> Landeshauptstadt -> Bundeshauptstadt. Im Sommer ziehe ich nach Deutschland zu meiner Freundin. -> Kleinstadt. Ich verbringe täglich mehrere Stunden im Web und tausche mich mit deutsch- und englischsprachigen Kontakten aus. Die Mehrheit der Beiträge, die ich lese sind englisch. Mein wertvollster Besitz ist ein Macbook Pro. (Konto ausgenommen.) Ich halte wenig von Nationalstaaten, glaube aber an Lokalpolitik. Als Land gebe ich gerne Europa an. Ich habe die Proteste im Iran und Ägypten intensiv mitverfolgt. Tunesien ist aus irgendeinen Grund an mir vorbei gezogen.
Soweit würde ich teilweise in diese neue Elite passen. Und doch nicht. Weder ich noch meine Kontakte sind so global verstreut, wie es von Michael beschrieben wird. Der Großteil lebt in den großen Städten in Österreich und Deutschland. Vereinzelt gibt es welche aus anderen Ländern, wenn sie englisch schreiben. Doch diese fühlen sich uns höchstwahrscheinlich nicht zugehörig, weil sie kein deutsch verstehen. Asien, Afrika und Südamerika sind eigentlich nicht auf der Kontaktelandkarte vorhanden. Die engsten Kontakte sind jene, die ich persönlich treffe, also Wien. In Deutschland kennt mich schon wieder fast niemand, selbst wenn ich in der österreichischen Webszene zu den bekannteren gehöre und mehrmals im nationalen Fernsehen, Radio und Zeitungen war.
Ich kann mich an zwei Twitter Memes erinnern, die aus dem deutschsprachigen Raum international wurden. Ansonsten spielen sich die Dinge zwischen den USA und UK ab. Die Nachrichtenregeln der klassischen Medien sind stark überlappend mit den persönlichen Filtern von Journalisten. Im Web funktioniert es vermutlich nicht anders. Und dass sich die nationalen Medien nicht für Ägypten interessieren, stimmt auch nicht ganz. Schaut man sich zugleich Twitter an, kamen zwar von vielen ein paar Meldungen, aber fast niemand hat deshalb darauf verzichtet weiter über Dinge aus seinem oder ihren Alltag zu schreiben. Auf Facebook, zumindest bei meinen Kontakten war Ägypten fast kein Thema.
Ich habe einzelne Kontakte die viel international unterwegs sind, doch gehören die eher einer klassischen Elite an, welche über politischen und ökonomischen Einfluss geprägt ist.
Zusammenfassung
Ich sehe auch ein schwächer werdendes Nationalgefühl, das vom internationalen Austausch profitiert.
Ich sehe aber keine neue Elite, die sich international solidarisiert, sondern nur punktuelle Aufmerksamkeit nach bekannten Nachrichtenregeln, allerdings im Web.
Update: Video über Empathie in den dortigen Kommentaren gefunden. Sehenswert.
Schreibe einen Kommentar